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Die seltsamste IATA-Generalversammlung aller Zeiten

Die IATA-Generalversammlung fand diesmal virtuell statt
Die IATA-Generalversammlung fand diesmal virtuell statt, © Screenshots Andreas Spaeth, Composing aero.de (boa)

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GENF - Die 76. Generalversammlung der IATA, Vertretung aller internationalen Linienfluggesellschaften, war die seltsamste, die es jemals gegeben hat. Noch nie ist das Gipfeltreffen der Luftfahrtszene ausgefallen, auch diesmal nicht. Aber Corona zwang Versammlung und Teilnehmer jetzt ins Virtuelle.

Manchmal sind es die kleinen Bemerkungen am Rande, die das beste Schlaglicht auf den Zustand des großen Ganzen werfen. "Meine Familie war ganz neidisch, dass ich jetzt nach Genf reisen durfte", entfuhr es Lufthansa-Chef Carsten Spohr irgendwann gegen Ende der halbtägigen Liveübertragung im Internet am Dienstag dieser Woche.

Wer Spohr kennt, weiß, wie gern er, oft begleitet von seiner Frau Vivian, stets im Juni an manchmal exotische Plätze der Welt reist und hier im Kreise der Airline-Granden von allen Kontinenten Hof hält – und natürlich hart arbeitet und wenig schläft.

Die Hauptversammlung der IATA ist so etwas wie ein jährliches Hochamt der Branche, bei dem vor allem auf den Fluren, in Hotelfoyers, Bars oder Separées mal geheim und mal vor aller Augen, mal tagsüber und mal mitten in der Nacht, Deals ausgehandelt werden.

Wo etwa kam die Idee eines Beitritts von Air Berlin zur Oneworld-Allianz als Idee auf, die dann tatsächlich Realität wurde? Am Rande der IATA-Generalversammlung in Berlin 2010. Allein schon die Festlegung darauf, wer die Ehre bekommt, die gesamte Branche zu empfangen, steht in Komplexität und Proporzdenken der Kür eines Austragungsortes der Olympischen Sommerspiele kaum nach.

Jahre zuvor beraten Komitees über mögliche Orte für die IATA Generalversammlung, zu der immerhin über Tausend Delegierte anreisen, und welche Airline an ihrem Heimatort Gastgeber sein darf.

Für 2020 war der Fall relativ einfach – KLM hatte im Oktober 2019 als älteste kontinuierlich unter ihrem Original-Namen aktive Airline der Welt ihren hundertsten Geburtstag gefeiert und wollte das ein halbes Jahr später im Juni 2020 nochmal im Kreis der Kollegen aus aller Welt zelebrieren.

Die Niederländer sind hervorragende Gastgeber und so freuten sich viele Branchenvertreter auf die Reise nach Amsterdam. Als im Frühjahr die Corona-Krise begann entschied man sich, statt wie gewohnt im Juni erstmals im November zu tagen.

Doch als sich zu Herbstbeginn abzeichnete, dass alles nicht besser, sondern wieder schlimmer wurde, sah sich die IATA nach auffällig langem Zögern doch gezwungen, die Versammlung nur virtuell abzuhalten.

"Eine ziemlich seltsame Veranstaltung"

Dabei hätte gerade die Luftfahrtbranche nur zu gern eindrucksvoll demonstriert wie wichtig und auch tatsächlich machbar persönliche Zusammenkünfte weiterhin sind. Statt zweieinhalb extrem dicht getakteter Tage inklusive Abendveranstaltungen, manchmal mitsamt spektakulärer Privatkonzerte (mit Celine Dion in Vancouver 2007 oder Kylie Minogue in Doha 2014) gab es 2020 nur ein paar wenig inspirierende Stunden am Computer-Bildschirm.

Wenige Vertreter höchster Gremien hatten sich dazu persönlich im IATA-Hauptquartier in Genf eingefunden, während der eigentliche Gastgeber Pieter Elbers, CEO von KLM, aus Amsterdam zugeschaltet war.

"Diese Hauptversammlung ist nicht annähernd so gut wie sonst, wo man wirklich mit Leuten in Verbindung treten und sie kennenlernen und fühlen kann und neue Ideen bekommt", konstatierte Carsten Spohr.

"Lassen Sie uns diese Krise nicht ungenutzt lassen", appellierte der verhinderte Gastgeber Pieter Elbers an die zugeschalteten Kollegen und bekundete: "Ich hoffe, da ist Licht am Ende dieses schrecklichen Covid-Tunnels in Gestalt eines Impfstoffs."

IATA-Generaldirektor Alexandre de Juniac, ein französischer Adliger mit gelegentlichen Anwandlungen eines Sonnenkönigs, fühlte sich sichtlich um seinen größten Auftritt des Jahres betrogen und hielt seine "State of the Industry"-Rede, die traditionell die Hauptversammlung eröffnet und den Ton vorgibt.

Diesmal begann er mit der missmutigen Aussage: "Dies ist eine ziemlich seltsame Veranstaltung heute." Um dann das stundenlange Stakkato von Katastrophenzahlen eindrucksvoll einzuleiten: Internationaler Verkehr um 89 Prozent gesunken, die weltweiten Passagierkilometer um 66 Prozent, sogar die im Vergleich kurzen Stagnationen des unaufhaltsamen Wachstums nach 9/11 und der Finanzkrise sind im Vergleich zum senkrechten Absturz der Kurve jetzt kaum zu erkennen, es ist der "größte Schock für die Luftfahrt seit dem zweiten Weltkrieg".

Mit verheerenden Auswirkungen auf die Finanzen der Branche, in 2020 erwartet man 118 Milliarden US-Dollar an Rekordverlusten und sieht 46 Millionen Jobs in Luftfahrt und Tourismus weltweit in Gefahr. Selbst für 2021 werden derzeit noch 38 Milliarden US-Dollar Miese prophezeit, was immer noch weit schlimmer ist als das Jahresergebnis 2008 nach der Finanzkrise.

Das von de Juniac so getaufte "Geschäft der Freiheit", die Luftfahrt, habe ihre Fähigkeit, Menschen zu verbinden noch nie so stark eingebüßt wie durch Corona. Europa hat es dabei besonders heftig erwischt, und Deutschland insbesondere: Verbanden im April 2019 noch 9.010 Städtepaare Europa mit aller Welt, so waren es ein Jahr später nur noch magere 2.110.

Für die ganze Welt ging die Zahl der angebotenen Verbindungen im gleichen Zeitraum von 19.320 Städtepaaren auf magere 6.780 zurück. Noch 2019 war Deutschland das am besten durch Luftverkehr vernetzte Land Europas vor Großbritannien, in der Krise stürzte das Angebot um 92 Prozent ab und Deutschland liegt nur noch knapp hinter Großbritannien. "Nur Afrika und der Mittlere Osten stehen in der Krise noch schlechter da als Europa", erklärte Rafael Schvartzman, IATA-Direktor für Europa.

"Es gibt zu viele Airlines"

KLM-Chef Pieter Elbers hingegen versuchte der Misere noch Positives abzugewinnen: "Die tiefe Krise wird die Branche weiter stimulieren, um wichtige Quantensprünge zu machen in Sachen Nachhaltigkeit und vielleicht endlich Fortschritte bringen bei lange ungelösten Problemen wie dem einheitlichen Himmel über Europa."

Gleichzeitig sei dies eine Gelegenheit für die Branche, sich zu erneuern und zur Konsolidierung. "Die ist gut, es gibt zu viele Airlines", so Elbers. Carsten Spohr brachte seinen Ausblick auf 2021 in drei Punkten unter: "Testen, Impfen und ein großer Druck, wieder zu reisen."

Im kommenden Jahr wird sich der nächste IATA-Chef mit dem Wiederaufbau der Branche beschäftigen. Die Nachricht, dass Ex-IAG- und British Airways-CEO Willie Walsh den Chefposten im März übernimmt kam überraschend, hatte Walsh doch noch kürzlich verkündet er hoffe die Branche werde ihn nach seinem Ausscheiden bei IAG "bald vergessen."

Unter vielen Delegierten war ein Aufatmen zu spüren, dass der bisweilen kapriziöse Alexandre de Juniac das Feld räumt und mit Willie Walsh ein erwiesener "tough guy" kommt, um den Überlebenskampf der Luftfahrt zu orchestrieren. "Ich habe mehr als 40 Jahre in dieser Branche verbracht, die Hälfte davon als Pilot, die andere Hälfte als CEO, ich weiß was nötig ist um Erfolg zu haben", erklärte Walsh den Delegierten.

Die planen nun, sich Ende Juli 2021 wieder persönlich zu treffen, in Boston. "Dort wird es möglich sein, wieder eine sehr sichere Hauptversammlung abzuhalten", versprach der nächste Gastgeber Robin Hayes, CEO von JetBlue.
© Andreas Spaeth | Abb.: Screenshots Andreas Spaeth, Composing aero.de (boa) | 28.11.2020 07:58


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